Eisberg

Veröffentlicht am 23. November 2025 um 12:16

Sigmund Freud sagte einmal: „Du bist nicht Herr deines Hauses.“  Wir denken, unser Bewusstsein kann all das greifen, was in uns wirkt. Wir denken wir agieren und reagieren, wir verändern, wir handeln, wir lenken, wir nehmen wahr, wir fühlen und empfinden, wir tun und machen - als Herr unserer Selbst. Es ist jedoch mittlerweile bekannt, dass wir uns nur an der Oberfläche des Eisbergs bewegen, dass unser Kopf nur einem kleinen Teil dieses Wirkspektrums entspricht. Wir denken wir entscheiden mit ihm, obwohl ein Großteil unserer Entscheidungen und Wahlen bereits vorher von dem viel größeren unbewussten unteren Teil des Eisberges in uns getroffen wurde. Ja, unsere Wahrnehmungen und selbst unser Selbstbild liegen auch mit diesen unbewussten Teilen zu Grunde.

 

Unser System hat irgendwann, gleich einem Computer, alles in sich abgespeichert was es braucht, um in dieser Welt bestehen zu können, um geliebt zu sein, um sicher und versorgt zu sein. Diese Speicherungen passieren im Grunde erst einmal wertfrei. Sie liegen erstmal keinem Richtig und Falsch im ethischen Sinne zu Grunde. Sondern sie dienen einfach nur dem bestmöglichen Überleben. So, wie wir Umstände erfahren, uns versorgende Menschen begegnen usw. Den größten Speicherplatz bekommen erlebte Dinge, die mit einer Gefahr für das System einhergehen, natürlich gekoppelt mit Gefühlen, meist Angst. All das ist in jeder unserer Zellen gespeichert. Daraus resultiert irgendwann eine tief verankerte Gebrauchsanweisung fürs Leben. Selbst wenn wir irgendwann mit unserer „Vernunft“ ausgestattet sind, und diese Speicherungen hinterfragen könnten, macht es uns unser Mechanismus nicht leicht. Zumal uns eben viele dieser Speicherungen gar nicht bewusst sind. Unser Vegetativum ist eng verknüpft damit und perfekt instruiert darauf, dementsprechend Signale zu senden. Wenn uns etwas im Außen begegnet, das mit einem unserer gespeicherten Schutzmechanismen irgendwie in Resonanz geht, dann bekommen wir ein ungutes Gefühl. In welcher Form auch immer. Dies kann sich in Stress, Unruhe, Ablehnung, Wut, Angst, Panik, körperlichen Symptomen und vielem mehr äußern. Unser System sagt also aufgrund einer irgendwann erfolgten Speicherung: Achtung, Gefahr oder Bedrohung. Zusätzlich erwähnenswert ist, dass nicht nur Unangenehmes spricht, sondern sogar Vorlieben, ein Gut Gefühl, und vielem mehr dem Gespeicherten folgt. Es ist das bereits Bekannte "how to do" zu dem unsere Software uns hinzieht. Egal ob es aktuell wirklich gut ist für uns.

 

Leider passieren Abläufe selten objektiv und sind häufig der gerade geschehenden Situation gar nicht mehr entsprechend. Da gibt es zB die Geschichte, dass eine Frau ständig Panikanfälle bekam, die erstmal völlig zusammenhangslos kommen zu schienen. Bei einer tiefen Hypnose stellte sich schließlich heraus, dass diese Anfälle wohl mit der Farbe Gelb zu tun hatten. Es kam heraus, dass sie als kleines Kind einen schweren Unfall miterlebte, bei dem ein Opfer einen gelben Pullover trug. Ihr System speicherte also zusammen mit ihrer existenziellen Angst die sie damals in der Situation insgesamt empfand, die Farbe Gelb als ebenso mit einer Bedrohung zusammenhängend ein.

Natürlich gab es im Heute, der Vernunft oder des Kopfes entsprechend, keine wirkliche Gefahr, wenn jemand ihr mit einer gelben Jacke begegnete, oder sie eine gelbe Leinwand zu Gesicht bekam. Auf Nachfrage ob es Auslöser gäbe, konnte diese Frau eben auch keinen nennen, weil er ihr einfach nicht bewusst war.

 

Dies ist ein heftigerer Fall, der allerdings die Dynamik unseres Wesens gut beschreibt. Die tagtäglichen Erscheinungen in unserem Sein verhalten sich oft viel subtiler und feiner. Und zwar so, dass wir aufgrund dieser Schutzmechanismen und Speicherungen bestimmte Menschen mögen oder bestimmte nicht. Dass wir Gesagtes oder Getanes auf eine bestimmte Art wahrnehmen aufgrund dessen. Dass wir uns getriggert fühlen, uns etwas anzieht oder abstößt. Usw. Diese Beispiele könnte man endlos fortsetzen.

 

Deswegen halte ich auch diesen Spruch: „Traue deinem Bauchgefühl, das trügt nicht“ für gewagt. Wenn wir nämlich eine tief sitzende Prägung/Angst in uns haben, dann kann das Bauchgefühl penetrant laut werden, unverhältnismäßig zum wirklichen Geschehen.

 

Wenn wir also uns selbst nicht begegnen, dann lehnen wir vielleicht sogar nicht nur ab, was gar nicht ablehnenswert ist, sondern wir versagen im Zweifelsfall auch Dingen die heilsames und befreiendes Potential für uns hätten.

 

Ich glaube hier kann man die Brücke zur Spiritualität schlagen. Ich denke der Weg unsere innere Welt der Prägungen, Bewertungen und Zellspeicherungen zu betreten geht einher mit spirituellem Wachstum. Je mehr wir bei uns selbst ankommen, öffnet sich etwas in uns. Es wird weiter.

 

Man hört diese weisen Worte spiritueller Lehrer immer wieder:

 

„Der Weg führt nach innen“

 

Vielleicht ist hier nicht gemeint, irgendwo in uns eine Leitung nach ‚oben‘ zu finden, vergraben hinter dem ganzen ‚unbrauchbaren menschlichen Gedöns‘. Vielleicht ist genau dieses ganz persönliche ‚Gedöns‘ unser Schlüssel. Wir sollten es nicht besiegen wollen, sondern ihm, und so uns selbst, begegnen.

 

Und vielleicht – begegnen wir dann in unserem gedacht doch so kleinen menschlichen Dasein noch viel Größerem.